Wirtschaftsstrafrecht und Strafverteidigung in Frankreich: Die Affaire Moulin und die Rechte der Verteidigung (von Alexander Skerka, Licencié en Droit (Paris),
vom 10.07.2005
Französischer Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kanzlei NH BAYER Rechtsanwälte Berlin) vom 10.07.2005 Wirtschaftsstrafrecht in Frankreich (Der Französische Rechtsanwalt als Strafverteidiger - Objekt staatlichen Handelns oder gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege? Oder: Der Fall Moulin als praktische Konsequenz einer Justizreform, die in Europa seinesgleichen sucht (Die Rechte der Verteidigung in Frankreich vor dem Hintergrund der Loi Perben II)
Der französische Gesetzgeber hat am 10. März 2004 ein Gesetz erlassen, welches das materielle Strafrecht vor allem aber das Strafvollzugsrecht an die Entwicklungen anpassen soll, welche sich auf dem Gebiet des organisierten Verbrechens sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene vollzogen haben. Das Gesetz Perben II modifiziert 350 Vorschriften des Code de Procédure Pénale, wie auch 70 Artikel des Code Pénal.
Auslöser für diese Reform ist die zunehmende Tätigkeit international agierender Verbrechersyndikate deren Zahl in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss des internationalen Terrorismus, auf das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Staaten, dem dieses Gesetz ebenfalls Rechnung trägt.
Der Weltwährungsfond schätzt, dass 2,5 - 5 % des weltweiten BIP, also zwischen 500 und 1000 Milliarden Euro aus illegalen Tätigkeiten in den internationalen Finanzverkehr fließen. In Frankreich beliefen sich 1999 die Schätzungen über die Höhe des illegal erwirtschafteten Vermögens auf 121 Milliarden Euro und allein im Jahre 2000 sind sechs Milliarden Euro solcher Gelder auf den französischen Markt geflossen. Die Zahl der Verdachtsmomente bezüglich organisierter Verbrechen hat sich in den Jahren 1997-2001 verdreifacht, wobei sie sich von 2001 auf 2002 noch einmal verdoppelt hat. Sowohl die Zahlen gewerblich organisierter Prostitution als auch des organisierten Drogenhandels verzeichneten in den Jahren 2000 und 2001 Zuwächse bis zu 17 %, was sich in einer stark erhöhten Zahl der Verurteilungen wegen Teilnahme an organisierten Straftaten oder ihrer Vorbereitung niederschlägt.
Wenn auch zu vermuten ist, dass das Anschnellen dieser Werte nach 2001 mit dem erhöhten Bemühen des Staates verbunden ist, terroristische Gefahren früher zu erkennen, belegt dies dennoch eine Tendenz, die es Regierung und Parlament notwendig erscheinen ließ, über eine bloße Verschärfung des Strafrahmens hinaus, die Verfolgung solcher Straftaten durch die Ausweitung von Sonderverfahren und -Befugnissen auf sämtliche Delikte, die im Verdacht stehen organisiert begangen worden zu sein, effizienter zu gestalten. Zudem wurden einige allgemeine Verfahren vereinfacht oder neu eingeführt, um der Überlastung der Strafgerichte zu begegnen.
Dieses Vorhaben sieht sich seit seiner Entstehung beständig heftiger Kritik von Seiten der Anwaltskammern und Menschenrechtsaktivisten, aber auch vereinzelt von Beamtenseite ausgesetzt. In vielen Punkten muss den Bedenken der Kritiker darin Recht gegeben werden, dass dieses Gesetz wesentliche Rechte der Verteidigung beschränkt.
So ist bereits fraglich, ob der neue Artikel 706-73 Code de Procédure Pénale, welcher die Delikte aufzählt, auf welche die Sonderverfahren anwendbar sein sollen, nicht schon zu umfassend formuliert ist. Es wird kritisiert, dass der Begriff der organisierten Kriminalität, die Art. 706-73 als Voraussetzung für die besonderen Verfahren vorsieht, so wie er gesetzlich definiert ist zu vage ist und Vergehen umfasst, wie Diebstahl und Sachbeschädigung, die solche Verfahrensweisen nicht rechtfertigen. Organisierte Kriminalität bedeutet gem. Art. 132-71 des Code Pénal, jede Personenmehrheit, die sich zur Durchführung einer oder mehrer Straftaten zusammengeschlossen hat. Soweit die Entscheidung über das Vorliegen qualifizierender Tatumstände wie bisher der gerichtlichen Entscheidung unterlag, genügte diese Definition noch rechtsstaatlichen Anforderungen. Ein viel zitiertes Beispiel sei der gemeinschaftlich begangene Diebstahl eines Fahrrads durch eine Gruppe 11 jähriger Kinder, der der neuen Gesetzeslage zufolge bereits eine Anwendung der Sonderverfahren auslösen könnte. Lässt die Formulierung des Art. 706-73 aufgrund ihrer Weite solches zu und obliegt die Entscheidung, ob das damit verbundene Sonderverfahren zur Anwendung kommt hauptsächlich der Staatsanwaltschaft ist die Zulässigkeit der Prozedur zu bezweifeln. Von Verfechtern des Gesetzes wird hervorgebracht, dass die besonderen Vorgehensweisen, wie Durchsuchungen oder Lauschangriffe der vorherigen Genehmigung durch den Juge des Libertés et de la Détention bedürften. Dieses Argument kann jedoch nur begrenzt überzeugen, da der JLD nicht wie der Untersuchungsrichter wirklich unabhängig ist. Ernannt durch den Präsidenten des Tribunal de Grande Instance kann er durch diesen ebenso seines Amtes enthoben werden. Die resultierenden Zweifel an seiner Unabhängigkeit lassen die neuen Kompetenzzuweisungen an die Staatsanwaltschaft vor dem Hintergrund der weiten gesetzlichen Definition des Art. 132-71 des Code Pénal zumindest fragwürdig erscheinen.
Die Palette der Untersuchungsmaßnahmen und Sondervorschriften, welche bei Verdacht auf eine organisierte Straftat zur Anwendung kommen können, trägt nur dazu bei, die Kompetenzerweiterungen der Staatsanwaltschaft kritisch zu sehen.
So werden die Rechte der Verteidigung eingeschränkt, indem die maximale Dauer einer vorläufigen Festnahme auf 96 Stunden verlängert wird, indem das Abhören von Privatwohnungen und Fahrzeugen, deren Durchsuchung und Verletzungen des Briefgeheimnisses ohne Beschluss des Untersuchungsrichters bereits für die polizeilichen Vorermittlungen zugelassen werden, indem die Strafbarkeit von Minderjährigen in bestimmten Fällen auf 10 Jahre herabgesetzt wird. Das Gesetz sieht eine geheime Voruntersuchung vor, gegen die der Betroffene keinen Einspruch einlegen kann, weil er nicht informiert worden ist. Die Möglichkeit in Untersuchungshaft genommen zu werden besteht für organisierte Straftaten schon ab einem Alter von 13 statt 16 Jahren. Der Verdächtige hat, vermutlich um eine Warnung seiner potentiellen Komplizen zu vermeiden erst wesentlich später das Recht einen Anwalt zu konsultieren. Die Mindeststrafbarkeit für eine Verwahrung in Untersuchungshaft wurde von fünf Jahren auf drei herabgesetzt.
All diese Maßnahmen und Sonderbedingungen sind einschlägig und zulässig sobald der JLD diese auf Antrag des Staatsanwalts wegen des Verdachts der Begehung eines organisierten Verbrechens anordnet.
Neben diesen Sonderkompetenzen zur Anpassung an die Entwicklung des organisierten Verbrechens, sieht das Gesetz mit Art. 434-7-2 des Code Pénal einen neuen Straftatbestand vor, welcher vor allem die Arbeit des Anwalts auf empfindliche Weise beschränkt bzw. unmöglich macht, will er sich nicht der Gefahr einer Durchsuchung und Beschlagnahmung seiner Akten, einer Versiegelung der Kanzlei und einer Verwahrung in Untersuchungshaft aussetzen. Er sanktioniert die Weitergabe von Informationen, welche Gegenstand eines Untersuchungsverfahrens sind, soweit dadurch der Erfolg des Verfahrens gefährdet erscheint mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses Strafmaß rechtfertigt die Verwahrung des Verdächtigen in Untersuchungshaft. Dies geschah im Falle von Maître Françoise Moulin sowie ihrem Vorgesetzten Maître Michel Dublanche, die wohl als erste der weiten Formulierung des Art. 434-7-2 zum Opfer gefallen sind. Im Rahmen eines Verfahrens wegen Geldwäsche wurde Me Moulin verdächtigt Informationen weitergegeben und damit gegen Art. 434-7-2 verstoßen zu haben. Sie wurde daraufhin wegen des Verdachts der Weitergabe von Informationen 23 Tage in Untersuchungshaft behalten. Me Dublanche wird seit dem 4. Juni wegen des Verdachts der Beihilfe zur Geldwäsche festgehalten.
Aufgrund dieser Behandlung und ihrer Signalwirkung für die möglichen Konsequenzen des Art. 434-7-2 für die anwaltliche Arbeit läuft die vereinigte Anwaltschaft Frankreichs gegen diese Norm Sturm und fordert ihre Abschaffung. Der Artikel sei nicht reformierbar, unbestimmt und darüber hinaus unnötig. Es bestünde mit Art. 11 des Code de Procédure Pénale schon ein Verbot der Weitergabe von Informationen und soweit ein Anwalt unrechtmäßig handele würde das Strafrecht auch für ihn gelten. Somit bestünde schon eine Sanktionsregelung für Anwälte, die sich auch im Berufsrecht durch die berufliche Schweigepflicht mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bei Nichteinhaltung fortsetze.
Der Justizminister hat sich letztlich dem Druck von Seiten der französischen Anwaltskammern gebeugt, indem er eine Absenkung der Strafbarkeit in Art. 434-7-2 auf zwei Jahre vorschlug. Dies wurde mehrheitlich begrüßt. Eine Wiederholung des Falles Moulin dürfte damit ausgeschlossen sein, da das herabgesetzte Strafmaß die Untersuchungshaft nicht mehr zulässt.
Eine weitere wesentliche Neuerung des Gesetzes Perben II ist die Einführung eines stark vereinfachten Verfahrens nach angloamerikanischem Vorbild, welches es dem Staatsanwalt ermöglicht dem vorläufig Festgenommenen ein Angebot zum Strafrahmen zu unterbreiten, das mindestens um die Hälfte unter dem in einem Gerichtsverfahren zu erwartenden liegt und maximal ein Jahr betragen. Der Beschuldigte gesteht im Gegenzug, die ihm zur Last gelegten Straftaten. Diese comparution sur reconnaissance préalable de culpabilité muss dann von einem ordentlichen Richter anerkannt werden und erlangt durch diese homologation Rechtskraft. Das Verfahren soll zur Entlastung der Gerichte beitragen und ist in den ersten Monaten seiner Gültigkeit bereits rege angewandt worden. Der Justizminister Dominique Perben bezweckte bei der Konzeption des Verfahrens eine Entlastung der Strafgerichte, sowie eine höhere Akzeptanz der Strafrahmen bei den Verurteilten.
Das Conseil Constitutionnel erachtete das neue Verfahren für verfassungsmäßig. Aktuelle Entscheidungen der Cour de Cassation und des Conseil d’Ètat diesbezüglich entschieden lediglich, dass die Anwesenheit des Staatsanwalts, entgegen der ministeriellen Durchführungsvorschriften, bei der Sitzung vor dem Richter nach Art. 495-9 des Code de Procédure Pénale notwendig sei. Das neue Verfahren wird also auch von der Anwaltschaft im Wesentlichen nicht mehr in Frage gestellt, wobei jedoch noch zu sehen sein wird, ob es den Anforderungen der europäischen Menschenrechtskonvention und dem in ihr verankerten Recht auf ein faires Verfahren genügt.
Vor allem durch die Schaffung neuer Ausnahmekompetenzen für Ermittler und Staatsanwaltschaft sowie die Herabsetzung der Mindeststrafbarkeiten gelingt es dem französischen Gesetzgeber, nach der loi Sarkozy zur inneren Sicherheit, einen weiteren Schritt im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den internationalen Terrorismus zu gehen. Die loi Perben II fügt sich damit in einen Kontext freiheitsbeschränkender Gesetzeswerke ein, wie sie von zahlreichen rechtsstaatlichen Demokratien als Reaktion auf die Geschehnisse des 11. September erlassen worden sind. Neben dem amerikanischen PATRIOT Act ließ auch die britische Regierung keine Zweifel an ihrem Willen dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis des Staates Rechnung zu tragen, indem sie 2001 ein Antiterrorgesetz erließ, welches kaum den Anforderungen des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention genügen dürfte, da es die Inhaftierung von Ausländern ohne Anklage und Verurteilung auf unbestimmte Zeit zulässt, soweit sie unter Verdacht stehen, die Sicherheit des Landes zu gefährden. Der Innenminister würde dieses Gesetz gern auch auf britische Staatsbürger ausdehnen. Auch in Frankreich genügt nun weitestgehend der bloße Verdacht der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, um ein ähnliches Sonderinstrumentarium zur Anwendung kommen zu lassen. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Verfahren vor den nationalen Gerichten und dem Europäischen Menschengerichtshof die Tragweite dieser Verfahren auf ein erträgliches Maß beschränken werden.
Autor: Alexander Skerka, Licencié en Droit (Paris), Französischer Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kanzlei NH BAYER Rechtsanwälte Berlin
(vom 10.07.2005)
Französischer Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kanzlei NH BAYER Rechtsanwälte Berlin) vom 10.07.2005 Wirtschaftsstrafrecht in Frankreich (Der Französische Rechtsanwalt als Strafverteidiger - Objekt staatlichen Handelns oder gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege? Oder: Der Fall Moulin als praktische Konsequenz einer Justizreform, die in Europa seinesgleichen sucht (Die Rechte der Verteidigung in Frankreich vor dem Hintergrund der Loi Perben II)
Der französische Gesetzgeber hat am 10. März 2004 ein Gesetz erlassen, welches das materielle Strafrecht vor allem aber das Strafvollzugsrecht an die Entwicklungen anpassen soll, welche sich auf dem Gebiet des organisierten Verbrechens sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene vollzogen haben. Das Gesetz Perben II modifiziert 350 Vorschriften des Code de Procédure Pénale, wie auch 70 Artikel des Code Pénal.
Auslöser für diese Reform ist die zunehmende Tätigkeit international agierender Verbrechersyndikate deren Zahl in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss des internationalen Terrorismus, auf das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Staaten, dem dieses Gesetz ebenfalls Rechnung trägt.
Der Weltwährungsfond schätzt, dass 2,5 - 5 % des weltweiten BIP, also zwischen 500 und 1000 Milliarden Euro aus illegalen Tätigkeiten in den internationalen Finanzverkehr fließen. In Frankreich beliefen sich 1999 die Schätzungen über die Höhe des illegal erwirtschafteten Vermögens auf 121 Milliarden Euro und allein im Jahre 2000 sind sechs Milliarden Euro solcher Gelder auf den französischen Markt geflossen. Die Zahl der Verdachtsmomente bezüglich organisierter Verbrechen hat sich in den Jahren 1997-2001 verdreifacht, wobei sie sich von 2001 auf 2002 noch einmal verdoppelt hat. Sowohl die Zahlen gewerblich organisierter Prostitution als auch des organisierten Drogenhandels verzeichneten in den Jahren 2000 und 2001 Zuwächse bis zu 17 %, was sich in einer stark erhöhten Zahl der Verurteilungen wegen Teilnahme an organisierten Straftaten oder ihrer Vorbereitung niederschlägt.
Wenn auch zu vermuten ist, dass das Anschnellen dieser Werte nach 2001 mit dem erhöhten Bemühen des Staates verbunden ist, terroristische Gefahren früher zu erkennen, belegt dies dennoch eine Tendenz, die es Regierung und Parlament notwendig erscheinen ließ, über eine bloße Verschärfung des Strafrahmens hinaus, die Verfolgung solcher Straftaten durch die Ausweitung von Sonderverfahren und -Befugnissen auf sämtliche Delikte, die im Verdacht stehen organisiert begangen worden zu sein, effizienter zu gestalten. Zudem wurden einige allgemeine Verfahren vereinfacht oder neu eingeführt, um der Überlastung der Strafgerichte zu begegnen.
Dieses Vorhaben sieht sich seit seiner Entstehung beständig heftiger Kritik von Seiten der Anwaltskammern und Menschenrechtsaktivisten, aber auch vereinzelt von Beamtenseite ausgesetzt. In vielen Punkten muss den Bedenken der Kritiker darin Recht gegeben werden, dass dieses Gesetz wesentliche Rechte der Verteidigung beschränkt.
So ist bereits fraglich, ob der neue Artikel 706-73 Code de Procédure Pénale, welcher die Delikte aufzählt, auf welche die Sonderverfahren anwendbar sein sollen, nicht schon zu umfassend formuliert ist. Es wird kritisiert, dass der Begriff der organisierten Kriminalität, die Art. 706-73 als Voraussetzung für die besonderen Verfahren vorsieht, so wie er gesetzlich definiert ist zu vage ist und Vergehen umfasst, wie Diebstahl und Sachbeschädigung, die solche Verfahrensweisen nicht rechtfertigen. Organisierte Kriminalität bedeutet gem. Art. 132-71 des Code Pénal, jede Personenmehrheit, die sich zur Durchführung einer oder mehrer Straftaten zusammengeschlossen hat. Soweit die Entscheidung über das Vorliegen qualifizierender Tatumstände wie bisher der gerichtlichen Entscheidung unterlag, genügte diese Definition noch rechtsstaatlichen Anforderungen. Ein viel zitiertes Beispiel sei der gemeinschaftlich begangene Diebstahl eines Fahrrads durch eine Gruppe 11 jähriger Kinder, der der neuen Gesetzeslage zufolge bereits eine Anwendung der Sonderverfahren auslösen könnte. Lässt die Formulierung des Art. 706-73 aufgrund ihrer Weite solches zu und obliegt die Entscheidung, ob das damit verbundene Sonderverfahren zur Anwendung kommt hauptsächlich der Staatsanwaltschaft ist die Zulässigkeit der Prozedur zu bezweifeln. Von Verfechtern des Gesetzes wird hervorgebracht, dass die besonderen Vorgehensweisen, wie Durchsuchungen oder Lauschangriffe der vorherigen Genehmigung durch den Juge des Libertés et de la Détention bedürften. Dieses Argument kann jedoch nur begrenzt überzeugen, da der JLD nicht wie der Untersuchungsrichter wirklich unabhängig ist. Ernannt durch den Präsidenten des Tribunal de Grande Instance kann er durch diesen ebenso seines Amtes enthoben werden. Die resultierenden Zweifel an seiner Unabhängigkeit lassen die neuen Kompetenzzuweisungen an die Staatsanwaltschaft vor dem Hintergrund der weiten gesetzlichen Definition des Art. 132-71 des Code Pénal zumindest fragwürdig erscheinen.
Die Palette der Untersuchungsmaßnahmen und Sondervorschriften, welche bei Verdacht auf eine organisierte Straftat zur Anwendung kommen können, trägt nur dazu bei, die Kompetenzerweiterungen der Staatsanwaltschaft kritisch zu sehen.
So werden die Rechte der Verteidigung eingeschränkt, indem die maximale Dauer einer vorläufigen Festnahme auf 96 Stunden verlängert wird, indem das Abhören von Privatwohnungen und Fahrzeugen, deren Durchsuchung und Verletzungen des Briefgeheimnisses ohne Beschluss des Untersuchungsrichters bereits für die polizeilichen Vorermittlungen zugelassen werden, indem die Strafbarkeit von Minderjährigen in bestimmten Fällen auf 10 Jahre herabgesetzt wird. Das Gesetz sieht eine geheime Voruntersuchung vor, gegen die der Betroffene keinen Einspruch einlegen kann, weil er nicht informiert worden ist. Die Möglichkeit in Untersuchungshaft genommen zu werden besteht für organisierte Straftaten schon ab einem Alter von 13 statt 16 Jahren. Der Verdächtige hat, vermutlich um eine Warnung seiner potentiellen Komplizen zu vermeiden erst wesentlich später das Recht einen Anwalt zu konsultieren. Die Mindeststrafbarkeit für eine Verwahrung in Untersuchungshaft wurde von fünf Jahren auf drei herabgesetzt.
All diese Maßnahmen und Sonderbedingungen sind einschlägig und zulässig sobald der JLD diese auf Antrag des Staatsanwalts wegen des Verdachts der Begehung eines organisierten Verbrechens anordnet.
Neben diesen Sonderkompetenzen zur Anpassung an die Entwicklung des organisierten Verbrechens, sieht das Gesetz mit Art. 434-7-2 des Code Pénal einen neuen Straftatbestand vor, welcher vor allem die Arbeit des Anwalts auf empfindliche Weise beschränkt bzw. unmöglich macht, will er sich nicht der Gefahr einer Durchsuchung und Beschlagnahmung seiner Akten, einer Versiegelung der Kanzlei und einer Verwahrung in Untersuchungshaft aussetzen. Er sanktioniert die Weitergabe von Informationen, welche Gegenstand eines Untersuchungsverfahrens sind, soweit dadurch der Erfolg des Verfahrens gefährdet erscheint mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses Strafmaß rechtfertigt die Verwahrung des Verdächtigen in Untersuchungshaft. Dies geschah im Falle von Maître Françoise Moulin sowie ihrem Vorgesetzten Maître Michel Dublanche, die wohl als erste der weiten Formulierung des Art. 434-7-2 zum Opfer gefallen sind. Im Rahmen eines Verfahrens wegen Geldwäsche wurde Me Moulin verdächtigt Informationen weitergegeben und damit gegen Art. 434-7-2 verstoßen zu haben. Sie wurde daraufhin wegen des Verdachts der Weitergabe von Informationen 23 Tage in Untersuchungshaft behalten. Me Dublanche wird seit dem 4. Juni wegen des Verdachts der Beihilfe zur Geldwäsche festgehalten.
Aufgrund dieser Behandlung und ihrer Signalwirkung für die möglichen Konsequenzen des Art. 434-7-2 für die anwaltliche Arbeit läuft die vereinigte Anwaltschaft Frankreichs gegen diese Norm Sturm und fordert ihre Abschaffung. Der Artikel sei nicht reformierbar, unbestimmt und darüber hinaus unnötig. Es bestünde mit Art. 11 des Code de Procédure Pénale schon ein Verbot der Weitergabe von Informationen und soweit ein Anwalt unrechtmäßig handele würde das Strafrecht auch für ihn gelten. Somit bestünde schon eine Sanktionsregelung für Anwälte, die sich auch im Berufsrecht durch die berufliche Schweigepflicht mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bei Nichteinhaltung fortsetze.
Der Justizminister hat sich letztlich dem Druck von Seiten der französischen Anwaltskammern gebeugt, indem er eine Absenkung der Strafbarkeit in Art. 434-7-2 auf zwei Jahre vorschlug. Dies wurde mehrheitlich begrüßt. Eine Wiederholung des Falles Moulin dürfte damit ausgeschlossen sein, da das herabgesetzte Strafmaß die Untersuchungshaft nicht mehr zulässt.
Eine weitere wesentliche Neuerung des Gesetzes Perben II ist die Einführung eines stark vereinfachten Verfahrens nach angloamerikanischem Vorbild, welches es dem Staatsanwalt ermöglicht dem vorläufig Festgenommenen ein Angebot zum Strafrahmen zu unterbreiten, das mindestens um die Hälfte unter dem in einem Gerichtsverfahren zu erwartenden liegt und maximal ein Jahr betragen. Der Beschuldigte gesteht im Gegenzug, die ihm zur Last gelegten Straftaten. Diese comparution sur reconnaissance préalable de culpabilité muss dann von einem ordentlichen Richter anerkannt werden und erlangt durch diese homologation Rechtskraft. Das Verfahren soll zur Entlastung der Gerichte beitragen und ist in den ersten Monaten seiner Gültigkeit bereits rege angewandt worden. Der Justizminister Dominique Perben bezweckte bei der Konzeption des Verfahrens eine Entlastung der Strafgerichte, sowie eine höhere Akzeptanz der Strafrahmen bei den Verurteilten.
Das Conseil Constitutionnel erachtete das neue Verfahren für verfassungsmäßig. Aktuelle Entscheidungen der Cour de Cassation und des Conseil d’Ètat diesbezüglich entschieden lediglich, dass die Anwesenheit des Staatsanwalts, entgegen der ministeriellen Durchführungsvorschriften, bei der Sitzung vor dem Richter nach Art. 495-9 des Code de Procédure Pénale notwendig sei. Das neue Verfahren wird also auch von der Anwaltschaft im Wesentlichen nicht mehr in Frage gestellt, wobei jedoch noch zu sehen sein wird, ob es den Anforderungen der europäischen Menschenrechtskonvention und dem in ihr verankerten Recht auf ein faires Verfahren genügt.
Vor allem durch die Schaffung neuer Ausnahmekompetenzen für Ermittler und Staatsanwaltschaft sowie die Herabsetzung der Mindeststrafbarkeiten gelingt es dem französischen Gesetzgeber, nach der loi Sarkozy zur inneren Sicherheit, einen weiteren Schritt im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den internationalen Terrorismus zu gehen. Die loi Perben II fügt sich damit in einen Kontext freiheitsbeschränkender Gesetzeswerke ein, wie sie von zahlreichen rechtsstaatlichen Demokratien als Reaktion auf die Geschehnisse des 11. September erlassen worden sind. Neben dem amerikanischen PATRIOT Act ließ auch die britische Regierung keine Zweifel an ihrem Willen dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis des Staates Rechnung zu tragen, indem sie 2001 ein Antiterrorgesetz erließ, welches kaum den Anforderungen des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention genügen dürfte, da es die Inhaftierung von Ausländern ohne Anklage und Verurteilung auf unbestimmte Zeit zulässt, soweit sie unter Verdacht stehen, die Sicherheit des Landes zu gefährden. Der Innenminister würde dieses Gesetz gern auch auf britische Staatsbürger ausdehnen. Auch in Frankreich genügt nun weitestgehend der bloße Verdacht der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, um ein ähnliches Sonderinstrumentarium zur Anwendung kommen zu lassen. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Verfahren vor den nationalen Gerichten und dem Europäischen Menschengerichtshof die Tragweite dieser Verfahren auf ein erträgliches Maß beschränken werden.
Autor: Alexander Skerka, Licencié en Droit (Paris), Französischer Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kanzlei NH BAYER Rechtsanwälte Berlin
(vom 10.07.2005)